Dienstag, 30. Dezember 2014

Glückliche Familie Nr. 260: Statt Kreuzverhör


Bevor der Weihnachtsrummel begann, habe ich in dem Buch "Die Liegenden" des italienischen Kolumnisten Michele Serra gelesen. Mit "Die Liegenden" ist sein 18jähriger Sohn und seine Freunde gemeint, weil sie ihr Leben meist im Liegen verbringen: mit Kopfhörern auf den Ohren und einem Handy fest verwachsen mit dem Mittelhand-Knochen.

Es gibt Stellen, über die ich sehr lachen musste und die das Leben mit Heranwachsenden treffend beschreiben:
"Alles bleibt an, nichts wird ausgeschaltet. Alles steht offen, nichts wird geschlossen. Alles wird angefangen, und nichts beendet."
Man könnte noch ergänzen:

Alles wird ausgebreitet, nichts wird eingesammelt.

Alles wird benutzt, nichts wird geputzt.

Alles wird nachts erlebt, weniges am Tage.

Alles wird den Freunden erzählt, weniges den Eltern.

Alles wird gesucht, nichts wieder gefunden.

Alles geht besser mit Chips, selten mit Vollkorn-Dinkel-Ingwer-Keksen.

Alles beginnt mit einem Blick in den Spiegel, nichts läuft ohne Deo.

Alles mit Käse Überbackene schmeckt, nichts mit weichem Gemüse.


Viele Eltern finden diese Zeit anstrengend. Wenn wir das Alter unserer Kinder (17 und 13) nennen, werden wir meistens bedauert. Ganz anders meine Freundin Katrin. Als wir unseren Freunden die Bilder vom Herbsturlaub zu viert zeigten, rief Katrin plötzlich: "Das ist die beste Zeit. Man kann so tolle Gespräche mit ihnen führen."

Katrin und ihr Mann können gerade nur den Hund betüdeln. Die Tochter studiert sechs Zugstunden entfernt, der Sohn verbringt ein Schuljahr im Ausland. Als wir unsere Freunde neulich zum Essen einluden, waren sie ganz selig, dass unsere Kinder mit am Tisch saßen. Dabei hatten wir gerade dem Kronprinz einen giftigen Blick zugeworfen, weil er halb unter dem Tisch auf sein Smartphone schielte. "Selbst das fehlt mir so", seufzte Katrin, "diese netten kleinen Konflikte."

Das mit den tollen Gesprächen ist wahr. Deshalb stimmt der Punkt "Alles wird den Freunden erzählt, weniges den Eltern" nicht ganz.
Gut: Es gibt Phasen da habe ich bessere Gespräche mit dem Labrador von nebenan als mit meinen Kindern.
Aber man muss nur zuwarten. Mal bin ich nachts vor einem Spätfilm versackt, als der Kronprinz von einer Party kam und wir bis in die Morgenstunden gesprochen haben. Mal saß ich im Urlaub auf einem Stein vor dem Ferienhaus und bewunderte den Sternenhimmel. Plötzlich erschien im Dunkel unsere Prinzessin (13), packte sich auch auf den Stein und hat mir in allen Details das komplizierte Beziehungsgeflecht ihrer Freundinnen erklärt.
Die Konstellationen am Himmel sind ein Witz dagegen, das sage ich euch.


Die Weihnachtskarte von Prinzessin (13) für ihre Eltern. 

Für solche Gespräche muss man Durststrecken aushalten, immer irgendwie in Beziehung bleiben und darf nichts erzwingen.

Und man muss Gelegenheiten schaffen.

Mein Mann geht deshalb laufen. Es kann regnen, es kann schneien - Vater und Sohn binden die Laufschuhe und haben die besten Gespräche. "Wie läuft es so?" - "Muss ja."
Nein wirklich, sie sprechen über Berufspläne, Zimmerpreise in Großstädten, Lautsprecher-Designs ... Wenn sie wieder kommen, stehen die Haare windgetunet über ihren roten, glücklichen Schwitzgesichtern. Und mein Mann hat tausend mal mehr über den Kronprinzen erfahren, als wenn er ihn ins Kreuzverhör nehmen würde.

Meine Gelegenheiten sind Rückenkratzen, Füßemassieren und Kochen (keine Sorge, alles räumlich und zeitlich getrennt). Den Sandwichtoaster aufheizen oder das Waffeleisen, Popcorn in den Topf werfen und eine DVD in den Player oder einen Kakao machen mit Sahne und Schokostreuseln. Das sind alles gute Gründe, sie herunter zu locken aus ihren Zimmern. Und dann kann es sein, dass sie den Kakao mit nach oben an den Rechner nehmen (= Durststrecke) oder sie bleiben viel länger als gedacht am Tisch und wir sprechen über Gott und ihre Welt.

Und jetzt, bevor dieser Post und das Jahr zu Ende geht, ist es wieder höchste Zeit, mein Lieblings-Pubertäts-Zitat von Jesper Juul zu bringen:

"Was unsere Kinder in der Pubertät von uns brauchen, ..., ist eigentlich nur das: zu wissen, auf dieser Welt gibt es einen oder zwei Menschen, die wirklich glauben, dass ich ok bin. Das brauchen sie. Viele von uns haben keinen solchen Menschen in unserem Leben. Mit einem kann man gut überleben, mit zwei kann man wunderbar leben. Doch das ist nicht unsere Tradition als Eltern. Wir verhalten uns eher wie Lehrer, sitzen mit einem Rotstift da und schauen, was noch nicht richtig ist. Das ist weder für die Kinder hilfreich noch für die Eltern." (Jesper Juul: Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht. Gelassen durch stürmische Zeiten. München 2010, Seite 23)

Wie schafft ihr Gelegenheiten, den Kindern zu geben, was sie in der Pubertät brauchen?

Immer fröhlich im alten und im neuen Jahr mit den "Liegenden" das Leben genießen.

Eure Uta