Freitag, 22. August 2014

Glückliche Familie Nr. 237: Betreuung, wirklich ganztags?


"Hast du das gelesen?" Der Soßenkönig schob mir dieser Tage die Zeitung über den Tisch. "Schon drei von vier Grundschülern in der Ganztagsbetreuung", lautete eine Überschrift.

Was dort als Erfolg für Hamburg gefeiert wurde, deprimierte uns beide. Als Grundschüler schon den ganzen Tag in der Schule?
Klar, das ist in manchen Fällen besser als allein oder verwahrlost zu Hause, besser als allein vor dem Fernseher oder Computer.
Aber als Kind in dem Alter immer unter Erwachsenenaufsicht? Immer kontrolliert, immer in einer vorgegebenen Struktur, immer pädagogisch angeleitet, immer beschäftigt von Erwachsenen?

Auf dem Schulhof ist aus Gründen der Haftung und Versicherung nicht einmal eine Schneeballschlacht erlaubt.

Kinder-Winter ohne Schneeballschlacht?

Gibt es für Kinder nicht mehr die Möglichkeit, nachmittags mit Freunden herumzustromern?

Banden bilden, Buden bauen, sich kloppen?

Im Gebüsch kauern und das alte Portemonnaie am Nylonfaden wegziehen, wenn sich ein Passant danach bückt?

Klingelstreiche, brettharte Kekse backen, Mehlschlacht?

Mit dem Rollbrett den Berg runterrasen, Verstecken spielen auf der Brachfläche, Spontanflohmarkt mit den staubigen Barbie-Puppen auf dem Bürgersteig?

Der Soßenkönig nahm einen Schluck Tee und erinnerte sich, wie er als Kind auf dem benachbarten Bauernhof zwischen den Heuballen gespielt hat. Und der alte Bauer durfte nicht wissen, dass er und die Mädchen vom Hof dort mit den Wachhund-Welpen spielten. Das war aufregend, anrührend, das stand in keinem Bildungsplan.

Meine Mutter hatte die beste Zeit ihres Lebens, als sie während des Krieges mit der Kinderlandverschickung auf einen Bauernhof im Münsterland gebracht wurde und dort mehr oder weniger sich selbst überlassen war. Noch heute erzählt sie am liebsten aus dieser Zeit.

Ich habe als Kind mit Freunden Unkrautsamen an der Bushaltestelle verkauft, Marmelade gekocht, bis die ganze Küche klebte, auf einer Wiese eine Schatzkiste mit rostigen Kronkorken verbuddelt und eine Seifekiste gezimmert, die in der ersten Kurve auseinander fiel.

Aber Vorstadtkrokodile scheint es nur noch auf DVD zu geben.

Selbst Eltern, die nachmittags daheim sind und Stützpunkt sein könnten für solche Abenteuer, lassen ihre Kinder nicht mehr zu Hause, weil diese auf der Straße niemanden zum Spielen finden. "Fast alle ihre Freunde sind ja in irgendeiner Betreuung", klagte meine Nachbarin, Mutter von zwei Grundschulkindern, mal.

Und den betreuten Kindern fehlt nicht nur der Kitzel des Lebens ohne Erwachsene, sondern auch Zeit für sich ganz allein. Keine Zeit mehr, sich mit der "Bravo" tagsüber im Zimmer einzuschließen, einen Ball selbstvergessen gegen die Mauer zu treten oder hinterm Schuppen zu träumen.
In der Schule ist man wegen der Aufsichtspflicht nie wirklich allein. Nicht einmal auf dem Klo. Jederzeit kann jemand unter den Türspalt gucken oder auf die Klinke hämmern.

Und wie ist das mit Trost und Nähe? Ist denn der Betreuungsschlüssel wenigstens so gut, dass das gegeben ist?

Meine Stepptanzlehrerin hat ihr Studio gegenüber einer Grundschule und bestreitet mit Kindertanz einen Teil des Programms der schulischen Nachmittagsbetreuung. "Du", sagte sie neulich, "die kleinen Mäusen wollen gar nicht mehr tanzen, die wollen alle nur auf meinen Schoß."

Ja, über die Schlagzeile "Schon drei von vier Gundschülern in der Ganztagsbetreuung" kann ich mich nicht recht freuen.











Ich habe mal überlegt, wie wir dem entgegensteuern können, selbst wenn Ganztagsbetreuung zum Standard werden sollte.

Tipps für mehr Freiräume für Kinder:

  • Wenn schon Ganztags-Betreuung dann mit großem Schulhof und viel Grün.
  • Im Garten verwunschene Ecken lassen, Büsche zum Verstecken sind wichtig und Bäume zum Klettern. Den englischen Garten kann man anlegen, wenn die Kinder in die Pubertät kommen.
  • Wer keinen Garten hat, könnte vielleicht einen Schrebergarten pachten.
  • Im Urlaub sind Campingplätze ideal. Meine Schwester Nummer 3 wohnt mit ihrem Sohn mitten in der Großstadt, aber seit Jahren fahren sie jedes Jahr im Sommer für drei Wochen auf einen Camping-Platz mit vielen Kindern. Dort kann mein Neffe von morgens bis nachts herumstromern, ohne dass sich meine Schwester Sorgen machen muss. Wenn die beiden zurück kommen, ist mein Neffe jedes Mal wie ausgewechselt: braun gebrannt, strohblond und hat jede Menge neuer Freunde. 
  • So ein kesseldruck-imprägniertes Klettergerüst mit TÜV-Plakette aus dem Gartencenter ist gut und schön, aber warum nicht eine Kiste mit Brettern, Seilen, alten Tüchern, Nägeln und Werkzeug in den Garten stellen und gucken, was passiert. (Das wäre auch eine Idee für die Nachmittagsbetreuung in der Schule, ich will mir aber nicht ausmalen, ob nicht wieder versicherungstechnische Gründe dagegen sprechen oder der Hausmeister ausrastet.) 
  • Das Buch "Leitfaden für faule Eltern" von Tom Hodgkinson enthält jede Menge Anregungen für mehr Freiräume für Kinder und Eltern.  
  • Sich fragen, ob volle Berufstätigkeit beider Eltern in der Phase Null bis 10 Jahre unabdingbar ist, ob wir wirklich einem Herzenswunsch folgen oder uns nur einer immer größer werdenden gesellschaftlichen Erwartung beugen. Wir werden doch sowieso immer länger arbeiten müssen. Warum dann dieser Stress? Die Jobs werden bleiben, aber die Kinder gehen garantiert aus dem Haus. 

Habt ihr zu Hause noch ein Vorstadtkrokodil? Ich würde mich freuen, wenn ihr mir von verwunschenen Ecken in eurem Garten oder selbst gezimmerten Baumhäusern und Buden in der Nachbarschaft berichtet oder Fotos schickt.

Immer fröhlich Freiräume für Kinder schaffen.

Eure Uta