Montag, 16. Juni 2014

Glückliche Familie Nr. 225: Morgen oder schon übermorgen


Mein Vater (82) sagt: "Je älter ich werde, desto mehr rast die Zeit."
Menschen empfinden das so, weil das Jetzt, das sie erleben, so kurz erscheint im Verhältnis zu all dem, was sie schon erlebt haben.




Bei einem Kind ist es genau umgekehrt. Weil alles noch vor ihm liegt, kann sich der Moment zu einer köstlichen Ewigkeit dehnen. Aber es macht sich sowieso keine Gedanken über die Zukunft. Kinder leben im Jetzt.

Erwachsene vergessen immer wieder, dass Kinder noch keinen linearen Zeitbegriff haben. Erst mit ungefähr 9 Jahren ist ein Kind dazu fähig vorherzusagen, wie viel Zeit eine Handlung beanspruchen wird (Jean Piaget: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Zürich 1955).

Wenn ich einem Vierjährigen sage, dass ich in drei Stunden wieder da bin, hat er keine Vorstellung davon, wie lange das ist. Deshalb machen wir es anschaulich: "Wenn der kleine, dicke Zeiger auf der Zwölf ist und der lange, dünne Zeiger ..."

Ein Kind wird heftig bestreiten, dass die halbe Stunde mit seinem Freund in der Matschpfütze genauso lang gedauert haben soll wie die halbe Stunde, als es gewartet hat, bis Oma mit dem Geburtstagsgeschenk kam.

Für ein Kind ist ein großer Stein älter als der kleine Stein, der daneben liegt.




Freunde erzählten uns, dass ihre kleine Tochter sehr wütend auf ihre Eltern war. Sie stemmte ihre Hände in die Taille, stampfte mit dem Fuß auf und brüllte: "Ich ziehe hier aus. Morgen, wenn nicht schon übermorgen."

Die Managementtrainerin Vera F. Birkenbihl hat Teilnehmer ihrer Seminare aufgefordert, die Zeit zu malen. Über 80 Prozent der Erwachsenen zeichnen einen Pfeil, ganz wenige zeichnen einen Punkt. Die Zeit, die eher ein Punkt ist, ein Augenblick, in dem man erfüllt ist, von dem, was man gerade tut, bezeichneten die alten Griechen als "Kairos".

Das Leben von Kindern besteht - wenn man sie lässt - aus "Kairos"-Zeit.

Wir Großen müssen es erst wieder mühsam lernen.

Seit zehn Tagen mache ich jeden Mittag 20 Minuten lang nichts. Ich sage den Kindern: "Und wenn der Papst anruft, ihr stört mich nicht." Ich schließe die Schlafzimmertür*, setzte mich auf mein Bett und schaue den Schrank an. Eine Invasion von Gedanken stürmt durch mein Hirn, aber ich stelle mir vor, dass ich hinter einem Wasserfall in einer Höhle sitze und alles, was durch meinen Kopf geistert, den Wasserfall nach unten schicke.*

Manchmal nicke ich ein in diesen 20 Minuten und werde von der Piepsuhr aus dem Dämmerzustand gerissen. Aber meistens entsteht so ein wattiges Gefühl. Auf jeden Fall fühle ich mich danach erfrischt und klarer ausgerichtet. Ich krempele die Ärmel hoch und arbeite mit mehr Freude und effektiver.

Eckhart Tolle schreibt:
"Nur wenn der Lärm des Denkens abebbt und sich genügend Stille in uns ausbreitet, erkennen wir, dass eine verborgene Harmonie da ist, eine Heiligkeit, eine höhere Ordnung, in der alles seinen perfekten Platz hat ..." (aus: Eckhart Tolle: Eine neue Erde, S. 205) 

Zunächst wollte ich euch hier Tipps geben, wie ihr damit umgehen könnt, wenn Kinder trödeln. (Je stärker wir Erwachsenen eingebunden sind, desto mehr werten wir das, was Kinder tun, als "trödeln" ab.)
Ich dachte an so Tricks wie 'wir machen ein Anzieh-Wettrennen' oder 'wir spielen Feuerwehr und wir müssen schnell in den Kindergarten, weil es dort brennt'. Aber dann war es mir zu blöd, dazu beizutragen, dass schon Dreijährige reibungslos funktionieren.

Was ich mir wünsche, ist,
  • dass Kindern nicht das "Kairos"-Leben ausgetrieben wird
  • dass ihre Eltern immer wieder Stunden oder Tage einschieben können, wo sie und die Kinder einfach in den Tag leben können
  • dass Eltern verstehen, dass freies Spiel (besonders im Vorschulalter) deutlich lehrreicher ist als das, was wir Erwachsenen unter Lernen verstehen

Der Kronprinz (16) meinte übrigens, der Papst ließe ausrichten, er werde später noch einmal anrufen.

Immer mal fröhlich nichts machen.

Eure Uta


* Man kann sich auch in der Mittagspause auf eine Parkbank setzen und einen Baum anschauen oder die Bürotür abschließen und in das Licht einer Kerze sehen.

** Diese Idee stammt aus dem wunderbaren Buch "Enjoy your life" von Martha Beck.