Freitag, 7. Februar 2014

Glückliche Familie Nr. 198: Mama im schwarzen Loch


Als ich noch keine Kinder hatte, war ich als Journalistin zusammen mit einer Fotografin auf einem Reportage-Termin. Die Fotografin war schwanger und ich fragte sie, wie sie das Weiterarbeiten nach der Geburt organisieren wolle.
Ich hatte damals gar keine Frage dazu, ob sie mit Baby weiterarbeiten würde. Schließlich machte die Fotografin Jobs für ein angesehenes Wochen-Magazin. Und ich war mir sicher, dass sie diesen Job nicht aufgeben wollte.

Aber die Fotografin guckte mich nur groß an (größte Blende überhaupt) und sagte: "Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht, was für ein Kind ich bekommen werde."

Wenig später wurde ich schwanger. Zwar war ich fest entschlossen, die ersten drei Jahre zu Hause bei dem Kind zu bleiben, aber es sprach ja nichts dagegen, zehn Monate nach der Geburt für zwei Wochen  als Referentin auf eine Journalisten-Fortbildung nach Süddeutschland zu verschwinden.

Der Kronprinz wurde geboren, ein paar Monate gingen ins Land und der Termin meiner Abreise rückte gefährlich nahe. Seine kleine Majestät nahm gerne mehrfach täglich die Brust und hielt nichts, aber auch gar nichts von Flaschen-Milch. Wir probierten alle Saugertypen durch, Ventilbecher und was der Baby-Markt so hergab, aber unserem Baby ging es ums Prinzip.

Schließlich wurde aus der ganzen Aktion ein rüdes Zwangs-Abstillen und ich saß mit der Oberweite meines Lebens im Zug nach Nürnberg.

Mein Mann hatte sich zum Glück zwei Wochen Urlaub nehmen können und blieb mit dem kleinen Kronprinzen zu Hause.

Nach einer Woche Seminar setzten sich meine Männer ins Auto und besuchten mich im Tagungshotel.

Aber das Kind war sichtlich irritiert.

Die Mama, die wie in ein schwarzes Loch verschwunden war und mit deren Ableben es sich offensichtlich abgefunden hatte, war plötzlich wieder da. Aber man sah, dass Kronprinz der ganzen Sache nicht mehr traute.
Und als der Milch-Mann (Papa) das erste Mal nach dem Wiedersehen mit Mama auf Toilette gehen wollte, wollte Kronprinz nicht bei Mama bleiben und brüllte wie am Spieß. Der Kleine musste mit auf die Toilette. So ging es dort die ganze Zeit.

Wahrscheinlich hatte er vor Augen, wie Papa sich durch das Oberlicht quetscht und mit den Pulvermilch-Tüten auf der Autobahn davon braust und nie wieder auftaucht. (Da so Kleine noch kein Zeitgefühl haben, beginnt "nie" nach sehr kurzer Zeit.)

Die Fotografin hatte damals gesagt, sie wisse nicht, was für ein Kind sie bekommen werde.

Ich finde es bewundernswert, wenn jemand die Ruhe und die Zuversicht hat, die neue Situation erst einmal abzuwarten und dann angemessen darauf zu reagieren. Da ist so viel Respekt vor dem neuen Menschen und für sich selbst in der neuen Situation als Mutter.

Die kleinen und größeren Jobs, die ich mir für die Zeit nach der Geburt organisiert hatte, haben uns alle sehr gestresst. Von großer Unruhe beim Kronprinzen bis zur Brustentzündung bei mir. Und später war es viel schwieriger, ihn mal fremd betreuen zu lassen, als bei Prinzessin, die als Baby nicht erleben musste, dass ich tagelang verschwand.

Gerade lese ich einen dicken Wälzer über Bindungstheorie. Dort wird klar, wie wichtig die Nähe vertrauter Menschen für den Säugling ist.

"Alle Sinne von Neugeborenen sind speziell auf die Reize geeicht, die von anderen Menschen ausgehen, ... : Es betrachtet lieber menschliche Gesichter als andere Muster, und es horcht konzentrierter auf die Stimme einer Frau, besonders die seiner Mutter, als auf irgendein anderes Geräsuch. Einen Tag alte Neugeborene unterscheiden feinsinnig zwischen dem Schreien eines anderen Neugeborenen und künstlich erzeugtem Schreien gleicher Lautstärke. ... Ein Finger aus Holz löst seinen Greifreflex weniger nachhaltig aus als ein ebenso dicker menschlicher Finger." (Karin Grossmann/Klaus E. Grossmann: Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart, 2012, 5. überarbeitete Auflage, S. 103)

Mit Kronprinz vor 16 Jahren und einige Monate, bevor ich auf das Seminar verschwand.

Ein Baby braucht konstant und verlässlich einen fürsorglichen anderen Menschen, der mit ihm interagiert: Körperkontakt, Sprechen, Mimik, Gestik, vertraute Gerüche, Lachen, Knuddeln. Es braucht nicht unsere ganze Aufmerksamkeit und auch kein spezielles Förderprogramm, sondern eine beiläufige Nähe.
"Eine distanzierte Erziehung ist nach zahlreichen ... entwicklungspsychologischen Forschungen entwicklungshemmend (...). Vergleiche mit verschiedenen Kulturen und internationale Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass körperliche Nähe und eine umsichtige, eher nachgiebige Erfüllung kindlicher Bedürfnisse zu höherer sozialer Kompetenz führen." (ebda S. 106) 
Im Supermarkt vorgestern schrie ein Mädchen von etwa drei oder vier Monaten. Die Mutter machte ihre Besorgungen, eine ältere Frau, wahrscheinlich ihre Mutter oder Schwiegermutter, folgte der jungen Frau und schob das Fahrgestell mit der Babyschale und dem Kind darin.
Die einzige Reaktion, die die ältere Frau auf das schreiende Kind zeigte, war: Rütteln. Die ganze Zeit rüttelte sie an dem fahrbaren Gestell, ohne dass das irgendeine Wirkung zeigte. Dabei schaute sie abwesend auf die Saure-Sahne-Paletten. Kein Auf-den-Arm-Nehmen, kein freundliches Wort, kein Blick-Kontakt.

Irgendwann hörte das Schreien auf und ich sah, dass das Mädchen mit Schnuller im Mund eingeschlafen war. Ich fürchte allerdings, es hatte sich nicht beruhigt, sondern es hatte resigniert.

Es kann gut sein, dass die beiden Frauen, die ich beim Einkauf sah, sonst sehr liebevoll und fürsorglich sind. Ich will mich gar nicht über sie erheben, schließlich war ich sogar tagelang ganz verschwunden und konnte nicht mal rütteln (was allerdings sogar gesundheitsgefährdend ist).

Ich schreibe dies, weil man am Anfang vieles nicht weiß oder sich bewusst macht. Das hat was mit Professionalität zu tun, die einem auch als Eltern sehr helfen kann.

Immer fröhlich um die ganz Kleinen herum-menscheln

Eure Uta

Ps1: Joanna hat hier ganz wunderbar darüber geschrieben, dass Mütter sich nicht von der Sorge verrückt machen lassen sollten, den beruflichen Wiedereinstieg nicht zu schaffen. Guckt mal unter Punkt 4.

Ps2: Das Seminar, für das ich gearbeitet habe, als Kronprinz noch so klein war, hatte keinerlei Bedeutung für das, was ich heute beruflich mache.