Donnerstag, 26. September 2013

Glückliche Familie Nr. 171: Losglück und Lebenshunger


Mein Mann meinte, ich könne nicht immer Juul zitieren.

Recht hat er.

Obwohl ich Juuls Gelassenheits-Pädagogik schon sehr verfallen bin: seinem Einfühlen ins Kind, seinem rührenden dänischen Akzent bei seinen Vorträgen und seinem Verständnis für familiäres Chaos. Ein Verständnis so breit wie sein Grinsen und so hoch wie die Dünen am Hennestrand.

Ich ging also in den örtlichen Buchladen und bestellte ein Buch von Jan-Uwe Rogge und Angelika Bartram.

"Die meisten bestellen ja Juul", sagte die Buchhändlerin und tippte Suchbegriffe ein. Ich sagte nichts und drehte am Ständer mit den Kunstkarten.

"'Wie Erziehung garantiert misslingt''', meinen Sie den Titel?" Der Kartenständer quietschte. "Ja, genau das Buch will ich haben."

Rogge und Bartram stellen fünf Erziehungsirrtümer an Beispielen dar und zeigen, wie man aus der jeweiligen Falle wieder heraus kommen kann.

Als Irrtümer werden genannt, wenn Eltern ...
  • glauben, sie könnten ihr Kind dazu bringen, im Leben etwas zu erreichen
  • daran fest halten, dass die Kinder ihnen gehorchen müssten
  • glauben, sie kämen ganz ohne Strenge aus
  • überzeugt sind, sie müssten immer für ihr Kind da sein
  • glauben, sie sollten ihre Kinder glücklich machen

Das sind zum Teil einander widersprechende Erziehungs-Tendenzen. Zu jeder Falle, in die man tappen kann, wird die Geschichte einer Familie erzählt. Die Autoren beschreiben, wie eine Strategie, an der sich Eltern festgebissen haben, zu wiederkehrenden Konflikten führt und das Miteinander sehr mühsam macht.

Ich kann noch keine Empfehlung für das ganze Buch aussprechen, weil ich noch nicht damit durch bin. Aber der Anfang ist vielversprechend.

Da ist Pia, die nach der Trennung von ihrem Mann den Schwiegereltern, sich und der Welt beweisen will, dass sie es auch alleine schafft mit den beiden Kindern. Ihr Mantra sind solche Sätze wie "Im Leben wird einem nichts geschenkt" oder "Wer nicht hören will, muss fühlen."

Ganz anders die Situation bei Nele, ihrem Mann Mario und dem gemeinsamen Sohn Jasper. Die Eltern sind beruflich erfolgreich und erziehen den Sohn mit Sätzen wie "Ohne Fleiß, kein Preis" oder "Was Hänschen nicht lernt ...". Der Junge muss direkt nach der Schule Hausaufgaben machen und sitzen bleiben, auch wenn er sich nicht mehr konzentrieren kann. Zur Belohnung schenken ihm die Eltern ein Golf-Training, das er gar nicht will.

Mit dieser Einstellung - so Rogge und Bartram - blieben die Eltern nicht im Jetzt, sondern wollten ihr Kind auf ein "imaginäres Später" vorbereiten. Und weil sie ihr Kind nicht in seiner Ganzheit sähen, sondern nur Talente, die sie so gern bei ihm entdecken würden, entstünde permanent Stress in ihrer Beziehung.

Ich möchte hier nicht im Einzelnen aufführen, welche Kurskorrekturen in dem Buch vorgeschlagen werden, um die Lage zu entspannen. Einen Satz aber, der mir besonders gefallen hat, möchte ich herausgreifen:

"Jeder abstrakten Erfahrung geht eine körperliche voraus."

Nicht nur Nele und Mario aus dem Buch, fast alle Eltern verfallen immer wieder einer viel zu akademischen Vorstellung vom Lernen: Schreibtisch, Bücher, Heft, Schönschreiben, Stillsitzen - das erfreut das Elternherz.

Nicht daran gedacht, dass Schaukeln bis in den Himmel die Gehirnhälften besser verdrahtet?

Schon vergessen, dass Klettern das räumliche Vorstellungsvermögen ausbildet?

Nicht gewusst, dass Balancieren eine wichtige Grundlage für das Matheverständnis ist?

Nicht selber schon gespürt, dass die Seele dürstet nach Singen, Tanzen und sich um sich selber drehen?


Kinder brauchen vor allem in den ersten zehn Jahres ihres Lebens folgende Möglichkeiten:
  • Seil springen
  • mit Bauklötzen bauen
  • Ball spielen
  • mit Sand spielen
  • rutschen, rennen, hüpfen
  • schaukeln
  • Höhlen bauen (draußen mit Zweigen oder drinnen mit Kissen und Decken)
  • balancieren
  • schnitzen
  • Nägel einschlagen
  • in Pfützen springen
  • malen, malen und malen
  • Tiere erleben/versorgen
  • sich um eine Puppe kümmern
  • trommeln
  • singen
  • sich verstecken
  • Geschichten hören

Tiere erleben: Prinzessin vor Jahren auf einem Bauernhof im Allgäu


Noch ein Tipp: Meine Elterntrainer-Kollegin hatte mal bei Baumfäll-Arbeiten in ihrer Nachbarschaft einen Stamm gerettet und auf ihre kleine Terrasse gelegt. Daneben immer griffbereit mehrere Hämmer und Nägel. Das war über Wochen die größte Attraktion für ihren Sohn und seine Freunde. 

Solche Angebote sind viel wichtiger als Früh-Englisch, Vorschul-Chinesisch oder sonstige Attentate, verübt von verkopften Erwachsenen auf lebenshungrige Kinder.

Mir bitte immer fröhlich schreiben, was ich in der Liste noch vergessen habe.

Uta


PS: Das Glückswindlicht aus Papier hat Sabrina von "Alltagssüß" gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!
Schreibst Du mir bitte eine Mail mit Deiner Postanschrift? Dann kann ich das Glück eintüten.