Sonntag, 1. September 2013

Glückliche Familie Nr. 165: Kleines Fragezeichen in Perpignan


In unserem Sommerurlaub haben wir auch die südfranzösische Stadt Perpignan besucht.

Stellt euch ein Straßen-Café vor: 30 Grad im Schatten, die Oberschenkel kleben an den Bistrostühlen. Kaum ein Wind in den schmalen Gassen.

Eine deutsche Familie setzt sich an den Nebentisch: Eltern, Großeltern, zwei Mädchen im Alter der großen Zahnlücken. 

"Ich will ein Eiiiiis", ruft das kleinere Mädchen, als die Erwachsenen noch die Stühle rücken. 

"Erdbeer, Zitrone und Schokolade." - 

"Hier gibt es kein Eis, nur Crepes mit Zucker." -

"Menno, ich will aber ein Eis." -

"Du hast doch gehört, es gibt hier keins." Mutter und Oma fächeln sich mit der Speisekarte Luft zu. 

"Setzt dich mal gerade hin. Kaum sind wir ein paar Meter gelaufen, hängst du hier am Tisch wie ein Schluck Wasser in der Kurve." -

"Wir können doch einen Eisladen suchen." -

"'Gerade sitzen', hab' ich gesagt," Mutter drückt dem Mädchen die Hand in den Rücken. 

"Ich habe dir schon mal gesagt, du sollst dich benehmen." Mutter zerrt den Stuhl mit dem kleinen Mädchen näher zum Tisch. "Du kannst dich benehmen, das weiß ich. Aber du willst es nicht."

"Können wir jetzt gehen? Hier gibt's ja doch kein Eis." -

"Du sollst dich benehmen, habe ich gesagt, einfach mal zehn Minuten artig sein. Ist das zu viel verlangt?"

Es folgen weitere Ausführungen über das Benehmen des Mädchens im Urlaub und allgemein.

Wortes-Last und Hitze haben es ganz in sich zusammen sinken lassen. Es hängt am Tisch wie ein kleines, schwitzendes Fragezeichen.

*

"Sich benehmen, artig sein, tun, was sich gehört" - das sind moralische Kategorien, mit denen ein Kind nichts anfangen kann. Es spürt nur diffus, dass irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung ist.

Jesper Juul sagt, wir sollen Kindern nicht dadurch Grenzen setzen, dass wir ihnen abstrakte Normen und Verhaltensregeln referieren. 
"Kinder wollen stets mit ihren Eltern zusammen arbeiten, und das fällt ihnen umso leichter, je persönlicher wir sie ansprechen und je gleichwürdiger wir sie behandeln, statt sie zurecht zu weisen und von oben herab zu behandeln." (Jesper Juul: Dein kompetentes Kind, Reinbek bei Hamburg, 2010, 3. Auflage, S. 228)

Da scheint es Eis zu geben.

*

Ich hätte der gestressten Mutter gerne einen kleinen Juul zum Soufflieren ins Ohr gesetzt. Etwa so hätte sie dann gesprochen:

"Dir ist es wichtiger, ein Eis zu essen als etwas zu trinken? Es tut mir leid, aber hier gibt es kein Eis." (Wunsch nicht abgebügelt, Bedürfnis anerkannt.)

"Trotzdem werden wir hier bleiben. Oma und Opa haben eben gesagt, dass sie dringend ein Weilchen sitzen müssen, und ich brauche eine Tasse Kaffee." (Wünsche der Erwachsenen klar geäußert.)

"Deshalb will ich, dass wir hier etwas trinken, uns kurz ausruhen und du eine halbe Stunde sitzen bleibst. Ich kann die Bedienung fragen, ob sie Dir Papier und Stifte bringen kann."

"Danach können wir gucken, ob es irgendwo ein Eis gibt." 

*

Wenn Kinder über längere Zeit verlässlich erleben, dass man ihre Bedürfnisse zwar nicht immer erfüllt, aber ernst nimmt, maulen sie in der Regel weniger, als wenn man erst alles abbügelt und sich dann doch "weich-meckern" lässt. 

Und wenn sie meckern, weil wir natürlich nicht immer alle Wünsche berücksichtigen können und wollen, sage ich schon mal: "Wer etwas fragt, muss auch mit einem 'Nein' leben können."

Mein Wort zum Sonntag heute: Moralpredigten vermeiden, immer persönlich mit den Kindern sprechen, ihnen zuhören und eigene Bedürfnisse als Erwachsene klar und fröhlich äußern (Puh, das 'fröhlich' auch noch verwurstet)


Uta


Ps: Das Verhalten der Mutter am Nebentisch in Perpignan war weder falsch noch schlimm. Auch wird das Mädchen deshalb kein Kindheitstrauma davon tragen. Mir fällt nur auf, dass viele Familie es sich unnötig schwer machen und permanent schlechte Stimmung haben. (Nur so zur Einordnung dieses Posts.)