Donnerstag, 22. November 2012

Glückliche Familie Nr.102: Morgenröte


Heute morgen 7:30 Uhr in Deutschland. Poltern auf der Treppe. Hünenhafter Teenager erscheint im Esszimmer, setzt sich an den Tisch, nimmt eine Brotscheibe aus dem Korb, streicht Frischkäse und Marmelade darauf.

Sohn: "Ich habe festgestellt, dass es mir besser geht, wenn ich etwas frühstücke."

Mutter: "Ach."

Er nimmt sich einen Apfelschnitz, trinkt ein Glas Orangensaft.

Sohn: "Ich werde demnächst etwas früher aufstehen, mir ein Sandwich machen mit Salat, Käse und Schinken und es mit in die Schule nehmen."

Mutter: "Ach."

Sohn: "Es ist mir einfach zu teuer, mir jeden Mittag, einen Döner zu kaufen."

Mutter: "Ach."

Sohn: "Kannst du knackigen Salat, Schinken und Brötchen für mich beim Einkaufen mitbringen."

Mutter: "Ach, ...äh, ich meine, ja."

Sohn: "Gut, tschüss dann."

Es dämmerte.

Draußen und in meinem Kopf. Hatte ich eine Erscheinung?

Seit Monaten hatte Kronprinz (15) vor der Schule nichts gefrühstückt. Jeden Morgen stellte ich einen Teller an seinen Platz und jeden Morgen räumte ich ihn unbenutzt wieder ab.

Anfangs hatte ich gefragt, ob er wirklich nichts essen wollte, hatte mich erkundigt, ob er vielleicht lieber Müsli möchte statt Brot. Aber ich hatte nie gedrängt oder geschimpft geschweige denn, ihn gezwungen, etwas zu essen oder ein Frühstücksbrot mitzunehmen.

Und jetzt das.

Morgenröte 


Wir haben eine gute Zeit mit unseren Kindern (15 und 11). Und meine größte Passion ist es, herauszufinden, wie es dazu gekommen ist, und meine Leser von meinen Erkenntnissen profitieren zu lassen. In guten wie in schlechten Zeiten.

Beim Laubfegen gestern habe ich darüber nachgedacht, was meine pädagogischen Schlüsselerkenntnisse sind. Ich musste den Rechen nicht lange durch die Blätter ziehen, da fiel mir dieser Satz ein:

... unterstützen statt erziehen ...


Es ist der Untertitel des Buches Kinder der Morgenröte von Hubertus von Schoenebeck. 

Ich habe dieses Buch an einem Samstag im Frühjahr 2008 morgens im Bett gelesen. Und es hat mich wie ein Blitz getroffen. Ich weiß noch, wie ich kurz darauf in den Getränkemarkt fuhr und selig lächelnd Flaschen in den Leergutautomaten schob.

Von Schoenebeck schreibt, dass jede Erziehung - ob autoritär oder antiautoritär, ob Waldorf- oder Montessori, ob Laisser-faire oder demokratisch - immer die Botschaft für das Kind enthält: du musst erst noch ein richtiger Mensch werden, dir muss ich etwas beibringen, du kannst vieles noch nicht tun oder entscheiden, du bist nicht alt genug, nicht groß genug und - im Kern -

du bist nicht ausreichend so wie du bist.

Erziehung könne noch so partnerschaftlich daherkommen, mit Augenhöhe und so einem Gesulze. Letztendlich seien sich die meisten Eltern aber sicher, sie wüssten besser als ihr Kind, was gut ist für das Kind. Schließlich waren ihre Eltern auch so mit ihnen, das gibt man einfach weiter.

Was kann man das vermeiden?

Sich öfter mal fragen: Warum will ich in einer Situation eingreifen?

Variante 1: Will ich eine Grenze ziehen für mich selbst ("Wenn du noch einmal mit deinen Freundinnen mein Rouge benutzt, bekomme ich 20 Euro von dir."), was völlig okay ist und auch gerne laut sein darf.

Variante 2: Bin ich in pädagogischer Mission unterwegs ("Im Grunde brauche ich das Rouge sowieso nicht mehr, aber sie soll lernen, fremdes Eigentum zu respektieren.").

Variante 2 - so von Schoenebeck - ist Gift für die Beziehung zum Kind. Kein sofort Tödliches, aber eines, das Tröpfchen für Tröpfchen unser Miteinander vergiftet, weil unser Ansatz ist: "Du bist nicht gut genug."

"(Im Miteinander, meine Ergänzung ...) geht es nicht um das 'Sieh das ein', nicht um Trotz, den es zu brechen gilt, nicht um das Teufelchen, das man zum Besten des Kindes austreiben muss, nicht um das Abendland, das in der Seele des Kindes gerettet sein will. ... Erziehungsfreie Konflikte verlaufen in anderen Bahnen, jenseits von missionarischem Eifer und inerer Not des Erwachsenen und jenseits von Wut, Hass, und Verzweifelung des Kindes." (von Schoenebeck, S. 57)

Seitdem ich glückstrunken vor dem Getränkeautomaten stand, habe ich diesen Ansatz nie vergessen. Es gelingt uns nicht immer, das umzusetzen. Wir haben auch Konflikte, aber sie erschüttern uns nicht in den Grundfesten der Beziehung zueinander.

Ich habe das Buch schon mehrfach verschenkt und bekam Reaktionen wie: "Das ist ja strange."

Aber vielleicht ist die eine oder andere unter euch, die es so tief berührt, wie mich.

Immer schön glücklich am Getränkeautomaten stehen von Schoenebeck lesen.

Uta