Montag, 20. August 2012

Glückliche Familie Nr. 72: Beruf oder Berufung?


Neulich bei der Augenärztin machte ich an einem Gerät einen Sehtest. Mein Kinn lag auf einer Halterung, und während ich in den Kasten guckte, nahm die Sprechstundenhilfe Messungen vor und beschoss mich mit Fragen. "Schon einmal eine Brille getragen?" - "Kontaktlinsen?" - "Grüner Star in der Familie?" - "Chronische Krankheiten?"- "Beruf?"

Beruf?

So eine große Frage. Die kann man doch nicht einfach gegen ein Sehstärkenmessgerät werfen.
"Journalistin und Mutter"? Oder lieber "Mutter und Journalistin"? Klingt "Publizistin" besser? Vielleicht "Familienmanagement und Publizistik"? Das hört sich nach einem Unternehmen an mit geprägtem Schild im Aufzug und tiefen Sesseln am Empfang.

Ich kann doch nicht sagen, dass ich eine Journalistin bin, die sich hauptsächlich ihrer Familie verschrieben hat oder noch schlimmer "eine schreibende Hausfrau".

Wie wäre es mit    Private Relations and Public Affairs, Uta A.,Vice-President?      
                                                 
Beruf?

Da muss ich mein Kinn von der Halterung nehmen, dem Mädchen am Tresen tief in die Augen blicken und zurückfragen dürfen: "Meinen Sie Beruf oder Berufung? Wollen Sie meinen Kopf gleich in das nächste Gerät stecken oder haben Sie eine halbe Stunde? Wollen Sie die Kategorie für die Krankenkasse oder wollen Sie wissen, was meinem Leben Inhalt und Ziel gibt?"

Beruf?

Da ist jemand gerade 20, hat seine erste Stelle angetreten, hat abends ein Date mit jemanden, der noch nicht einmal weiß, ob er je Kinder möchte, und meint, einer Veteranin, gestählt im jahrzehntelangen Ringen um die Vereinbarkeitslösung, eine solche Frage entgegenschleudern zu dürfen.


Welche Sehstärke? Welches Auge? Welcher Beruf? 


Ich glaube, die meisten Frauen zwischen 28 und Ende 40, die mehr als die Hälfte ihrer Zeit in die Familie investieren, eiern herum bei der Frage: "Und was machst du so beruflich?"

Bei einer Party trafen mein Mann und ich einen Geschäftspartner meines Mannes und seine Frau. Die Männer vertieften sich in ein Job-Thema. Wir Frauen lächelten uns an. Wetterlage? Büfett-Qualität? Herkunft des Kleides? Der kleine Talk ist nicht meine Stärke. Also fragte ich, was sie so macht in ihrem Leben.
Aua.
Wie ein Kind, das ein Gedicht aufsagen muss, stellte sie sich gerade, schob die Brust raus und sagte: "Ich manage unser familiäres Kleinunternehmen", wirbelte auf ihrem Absatz herum und verließ den Raum.
Äh, ich mein doch bloß ... Ich bin doch auch ... Hallo? Sehe ich aus wie die Schwester von Ursula von der Leyen?

Das Leben von Müttern ist einfach bunt. Das lässt sich nicht reduzieren auf eine Rubrik in den Stellenanzeigen, egal, ob sie irgendwo angestellt sind oder freiberuflich arbeiten, egal, wie viel ihrer Zeit sie in die Familie investieren. Bei den wenigsten, die ich kenne, passt das, was sie tun, auf ein kleines Pappkärtchen.

Wozu der Frust, dass man uns nicht so leicht eine Stellenbeschreibung ans Revers hängen kann?

Mein Lieblingsautor zum Thema Zeitmanagement, Stephen R. Covey, sagt, man müsse den Anfang vom Ende her denken. Was sollen die Leute auf meiner Beerdigung über mich sagen? Wer soll alles dort sein? Was soll als der Inhalt meines Lebens beschrieben werden?

Wenn ich darüber nachdenke, dann komme ich auf keine Stellenbeschreibung, mit der ich auf Partys glänzen könnte. Am Ende sollte über mich gesagt werden, dass ich mein Bestes getan habe, um meinen Mann und meine Kinder zu unterstützen (es ist ein Fehler, schon morgens Wimperntusche zu tragen, schnief) und es sollte erwähnenswert sein, dass ich über die Familie hinaus, andere Menschen durch Schreiben und Coaching ermutigen konnte, ihr ganz eigenes Ding zu tun, und dass ich mein Leben in vollen Zügen genossen habe.

Das war jetzt rasant, oder? Vom Augenarzt über das Party-Gespräch bis ans Grab. Aber manchmal braucht es Umwege, um auf den Punkt zu kommen.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta