Donnerstag, 2. August 2012

Glückliche Familie Nr. 67: Das Sorgen-Abo


Am Gartenzaun sprach ich mit meiner Nachbarin von gegenüber. Sie hätte da noch eine Frage, sagte sie und die zarte Falte zwischen ihren Augenbrauen geriet zum Canyon. "Nils", seufzte sie und machte eine Pause, als sei das nicht der Name für ihr Kind, sondern eine Diagnose.

Nils, über den sich schon die Kindergärtnerin wegen seines Schimpfwortschatzes beklagte.
Nils, über den eine Ergotherapeutin einen Bericht schrieb, der den Eltern die Tränen in die Augen trieb.
Nils, dessen Mutter von einem Professor für Kinderheilkunde den Rat bekam, die Ergotherapeutin zum Teufel und den Jungen zum Toben auf den nächsten Baum zu schicken.
Nils, der normalste Junge der Welt.

"Ich mache mir Sorgen wegen Nils in der Schule", sagte Martina. Er habe ja jetzt sein erstes Zeugnis bekommen und da stehe drin, dass er unruhig sei und besser zuhören müsse. Und die Lehrerin hätte auch gesagt, dass sie Nils alles zweimal sagen müsse.

Ich wollte meiner Nachbarin schon auf das Heftigste die Hand schütteln und sie im Club der Normale-Jungs-Eltern begrüßen. Aber Martina war nicht nach Feiern zumute.
Und lesen wolle Nils auch nicht freiwillig. Immer müsse sie eine Belohnung in Aussicht stellen, damit er mal zwei Seiten lesen würde. Das klang so richtig nach Spaß und ich hatte Lust, mit Nils starke Ritter mit Riesenschwertern in langweilige Erstlese-Bücher zu kritzeln.
Neulich war ich mit Kronprinz (14) in Hamburg in einer Fotoausstellung. Dort lief ein kleiner Film, in dem ein Künstler ein aufgeschlagenes Buch mit Schlamm bestrich, Kiesel darauf kippte, das alles festkloppte und wieder abkratzte. Das ergab einen sehr schönen Effekt. Nils hätte das gefallen.

Es gibt eine unter Eltern weit verbreitete Krankheit: die Sorgeritis.

Die Krankheit kann auftreten, selbst wenn Menschen körperlich gesund und von den prächtigsten Kindern umgeben sind.

Symptomatisch ist, dass sie klagen, ihr Kind sei
  • in der Schule schlecht
  • in der Schule gut und werde deshalb gemobbt
  • habe keine Freunde
  • habe die falschen Freunde
  • schlafe zu lange, zu wenig, zu unruhig, nicht bei anderen
  • treibe keinen Sport, habe nur Fußball im Kopf
  • esse zu wenig, esse zu viel, zu viel Süßes, zu viel Salziges ...
  • sei hochbegabt und unterfordert 
  • bewege sich zu viel, zu wenig, zu hektisch ...

Wenn die eine Sorge sich erledigt hat, tanzen wir dann durch den Garten, schmeißen wir eine Party, kitzeln wir die Kinder durch und freuen uns ein Loch ins Bein?

Nein, wir suchen uns schnell die nächste Sorge. Manche Leute leben als hätten sie ein Sorgen-Abo. Pünktlich wie die Zeitung morgens holen sie die nächste Sorge aus dem Kasten.


So kann Leben auch sein.

Vor mehr als einem Jahr lebte ich wenige Wochen in der Sorge, ernsthaft krank zu sein. Wenn die Diagnose sich nicht bestätigen würde, dann würde ich es in meinem Leben mit meinen Lieben so richtig krachen lassen, schwor ich mir eines nachts.
Die Diagnose hat sich nicht bestätigt. Ich hüpfte kerngesund aus der Praxis und umarmte und beschenkte den ersten Obdachlosen, der mir unten auf der Straße begegnete.

Und heute? Lasse ich es so richtig krachen?

Na, zwischendurch krächelt es eher, selber schuld.

Bei Wolfgang Herrndorf, dem Autor des Romans "tschick" (den Kronprinz verschlungen hat und ich noch unbedingt lesen will), wurde 2010 ein Hirntumor entdeckt. Auf die Frage, wie er mit der Krankheit umgehe, antwortete er in einem Interview: "Die Sonne geht immer hinter der nächsten Düne unter."

Der Satz hat mich umgehauen.

Und damit wir Kinder nicht mit unseren vermeintlichen "Sorgen" erdrücken, zeige ich euch noch mal dieses kleine Video. Ich hatte es reingestellt, als ich drei Leser hatte. Deshalb haben einige es vielleicht noch nicht gesehen.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta